Veröffentlicht am März 15, 2024

Wahrer Vintage-Stil entsteht nicht durch das Befolgen der starren ‚Ein-Teil-Regel‘, sondern durch den gekonnten Dialog der Silhouetten.

  • Die Harmonie der Formen (z.B. weite Hose zu engem Top) ist entscheidender als das Jahrzehnt der Kleidungsstücke.
  • Moderne, hochwertige Basics dienen als ruhige „Leinwand“, die Ihre Vintage-Schätze zum Leuchten bringen.

Empfehlung: Betrachten Sie jedes Kleidungsstück als Charakter mit einer eigenen Form und Geschichte, nicht nur als Relikt einer Epoche. Experimentieren Sie mutig!

Sie kennen das Gefühl: Auf dem Flohmarkt im Mauerpark oder in einem kleinen Secondhand-Laden in Ehrenfeld entdecken Sie ihn – den perfekten Schatz. Eine seidene 70er-Jahre-Bluse mit einem psychedelischen Muster oder eine perfekt eingetragene 90er-Jahre-Jeans. Die Freude ist riesig, doch zu Hause vor dem Spiegel meldet sich eine leise, aber strenge Stimme im Kopf: „Vorsicht! Kombiniere niemals Epochen! Trage immer nur ein einziges Vintage-Teil, sonst siehst du verkleidet aus.“ Dieses ungeschriebene Gesetz der Modewelt hat schon unzählige kreative Outfit-Ideen im Keim erstickt.

Die gängigen Ratschläge beschränken sich oft auf das Offensichtliche: Man solle Vintage-Stücke mit modernen Basics kombinieren oder auf die Passform achten. Das ist nicht falsch, aber es ist auch nicht die ganze Wahrheit. Es kratzt nur an der Oberfläche eines viel spannenderen Konzepts. Was, wenn die wahre Kunst nicht in der ängstlichen Begrenzung, sondern im bewussten Kuratieren von Kontrasten liegt? Was, wenn eine 70er-Schlaghose und ein bauchfreies Top aus den 2000ern eine absolut geniale Kombination ergeben können, wenn man die richtigen Prinzipien beachtet?

Dieser Guide bricht mit den alten Dogmen. Er ist ein Plädoyer für den Mut zum Epochen-Clash, eine Einladung zum Experiment. Wir werden die starre „Ein-Teil-Regel“ hinterfragen und Ihnen stattdessen ein neues, viel mächtigeres Werkzeug an die Hand geben: die Silhouetten-Harmonie. Sie werden lernen, wie Sie Muster furchtlos mixen, warum moderne Basics die perfekte Bühne für Ihre Vintage-Funde sind und was wir von Stil-Ikonen wie Jane Birkin wirklich über die Kraft des Stilbruchs lernen können. Machen Sie sich bereit, Ihren Kleiderschrank nicht mehr als Sammlung von Epochen, sondern als Spielwiese für Ihren einzigartigen Stil-Code zu betrachten.

Dieser Artikel führt Sie durch die entscheidenden Schritte, um aus einzelnen Vintage-Funden einen kohärenten und persönlichen Look zu kreieren. Entdecken Sie im Folgenden die Geheimnisse des gelungenen Stil-Mixings.

Muster-Mut: Die Formel für einen gelungenen Mix aus Streifen, Punkten und Blumenmustern

Das Kombinieren von Mustern fühlt sich oft an wie ein modisches Minenfeld. Ein falscher Schritt, und der Look wirkt chaotisch und überladen. Doch mit einer einfachen Formel, die Innenarchitekten seit Jahrzehnten anwenden, wird der Mustermix zum Kinderspiel: die 60-30-10-Regel. Übertragen auf die Mode, gibt sie Ihnen eine klare Struktur, um verschiedene Drucke harmonisch zu vereinen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Es geht darum, eine visuelle Hierarchie zu schaffen, in der jedes Muster seine eigene Rolle spielen darf.

Stellen Sie sich Ihr Outfit wie einen Raum vor. Das dominanteste Muster nimmt 60 % des visuellen Raums ein, ein sekundäres, oft kleinteiligeres Muster füllt 30 %, und ein kleines Akzentmuster setzt auf den letzten 10 % einen finalen Paukenschlag. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, die Muster über eine gemeinsame Farbpalette zu verbinden. Selbst die wildesten Kombinationen wirken stimmig, wenn ein oder zwei Farben in allen Teilen wiederkehren. Nutzen Sie diese Regel nicht als starres Gesetz, sondern als kreatives Geländer, das Ihnen Sicherheit beim Experimentieren gibt.

Um die Regel praktisch anzuwenden, folgen Sie diesen Schritten:

  1. Wählen Sie Ihr dominantes Muster (60 %): Dies ist Ihr „Hauptdarsteller“. Entscheiden Sie sich für ein großflächiges Muster auf einem Kleid, einem Rock oder einem Mantel. Ein opulenter Blumenprint aus den 70ern oder ein breites Streifenmuster sind hier ideal.
  2. Ergänzen Sie ein sekundäres Muster (30 %): Wählen Sie ein Muster in einer kleineren Skalierung. Eine Bluse mit feinen Pünktchen, eine Jacke mit dezentem Karomuster oder ein schmal gestreiftes Top sind perfekte „Nebendarsteller“.
  3. Setzen Sie ein Akzentmuster (10 %): Dies ist Ihre Chance für einen Hauch von Exzentrik. Ein Seidentuch mit einem grafischen Print, Socken mit einem witzigen Motiv oder eine gemusterte Clutch genügen, um dem Look eine persönliche Note zu verleihen.
  4. Schaffen Sie Ruhezonen: Verwenden Sie einfarbige Basics wie einen Gürtel, Schuhe oder eine schlichte Tasche als neutrale Puffer zwischen den Mustern. Sie geben dem Auge eine Pause und bringen die gesamte Komposition ins Gleichgewicht.

Ein strukturierter Ansatz wie dieser befreit Sie von der Angst vor dem „Zu-viel“. Für den Anfang empfiehlt ein Leitfaden für Retro-Looks, sich zunächst auf klassische Muster wie Polka Dots, Karos oder Streifen zu konzentrieren, da ihre geometrische Klarheit die Kombination erleichtert.

Ein Star pro Outfit: Wie Sie vermeiden, dass Ihr Look wie ein Kostümverleih aussieht

Eine der am häufigsten zitierten Regeln in der Welt der Vintage-Mode ist die Maxime der Reduktion. Sie wird von vielen Stilberatern wie ein Mantra wiederholt und hat sich tief in unser modisches Bewusstsein eingebrannt. So rät beispielsweise die „Modeflüsterin Fashion-Formel“ in ihrem Style-Guide unmissverständlich:

Tragen Sie im Look möglichst immer nur ein einziges Vintage-Teil. Kombinieren Sie niemals Vintage-Teile aus unterschiedlichen Epochen in einem Look. Tragen Sie ein auffälliges Vintage-Teil immer zu ganz schlichten, klassischen, minimalistischen Looks.

– Modeflüsterin Fashion-Formel, Wir lieben Vintage: Der Style-Guide

Dieser Ratschlag ist sicher und verhindert modische Fehltritte. Aber ist er auch inspirierend? Für eine wahre Individualistin wie Sie, die den Nervenkitzel des Flohmarktfundes liebt, kann diese Regel schnell zur kreativen Fessel werden. Wahrer Stil, im Geiste einer Ikone wie Iris Apfel, entsteht nicht durch Begrenzung, sondern durch einen mutigen Stil-Dialog. Anstatt Vintage-Stücke zu zählen, sollten wir lernen, sie miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Frage ist nicht „Wie viele Vintage-Teile sind erlaubt?“, sondern „Wie interagieren die Formen, Materialien und Geschichten meiner Kleidungsstücke?“.

Nahaufnahme von minimalistischem deutschem Designerschmuck kombiniert mit Vintage-Kleidung

Anstatt sich auf ein einziges „Star-Stück“ zu beschränken, denken Sie in den Kategorien „Protagonist“ und „Anker“. Ein auffälliges Vintage-Teil – sagen wir, eine 80er-Jahre-Bluse mit gewaltigen Schulterpolstern – ist Ihr Protagonist. Es erzählt die lauteste Geschichte. Nun braucht es einen modernen Anker, der es in der Gegenwart verankert. Das kann eine schlichte, hochgeschnittene Jeans sein, aber auch ein minimalistisches Schmuckstück, eine moderne Tasche oder sogar ein Paar klobige Sneaker. Dieses Anker-Stück schafft einen bewussten Bruch und signalisiert: „Dies ist kein Kostüm, dies ist ein kuratierter Look.“ So können Sie sogar zwei Vintage-Teile verschiedener Epochen kombinieren, solange ein starkes, modernes Element die Brücke baut.

Die perfekte Leinwand: Welche modernen Basics Sie brauchen, damit Ihre Vintage-Schätze glänzen

Jedes exzentrische Vintage-Stück braucht einen ruhigen Gegenpol, um seine volle Wirkung zu entfalten. Stellen Sie sich Ihre modernen Basics als die weiße Wand einer Kunstgalerie vor: Sie treten selbst in den Hintergrund, damit das Kunstwerk – Ihr Vintage-Schatz – strahlen kann. Doch „Basic“ bedeutet nicht gleich „langweilig“. Es geht um hochwertige, perfekt sitzende Stücke in neutralen Farben, die eine verlässliche Grundlage für Ihre modischen Experimente bilden. Eine perfekt geschnittene schwarze Hose oder ein schlichtes weißes T-Shirt sind keine Lückenfüller, sondern strategische Werkzeuge in Ihrem Stil-Arsenal.

Die Investition in Qualität ist hier entscheidend. Ein billiges, formloses T-Shirt kann einen edlen 50er-Jahre-Rock abwerten, während ein T-Shirt aus fester Bio-Baumwolle von einer nachhaltigen Marke den Look sofort aufwertet. Der Fokus liegt auf Schnitt, Material und Langlebigkeit. Gerade in Deutschland gibt es eine wachsende Zahl an Marken, die sich auf nachhaltige und fair produzierte Basics spezialisiert haben – die perfekten Partner für Ihre Secondhand-Lieblinge. Diese Stücke bilden das Fundament, auf dem Sie aufbauen können.

Die folgende Tabelle stellt einige deutsche Marken vor, die sich hervorragend als Basis für Vintage-Kombinationen eignen, wie eine Analyse für Vintage-Anfänger zeigt.

Deutsche nachhaltige Basic-Marken für die Vintage-Kombination
Marke Spezialität Preisklasse Nachhaltigkeitsfokus
Armedangels T-Shirts, Jeans €€ GOTS-zertifiziert, Fair Trade
Lanius Blusen, Strickwaren €€€ Bio-Baumwolle, faire Produktion
Merz b. Schwanen Traditionelle Strickwaren €€€ Made in Germany, langlebige Qualität

Vergessen Sie auch nicht die „unsichtbare Basis“: Moderne, gut sitzende Unterwäsche kann die Silhouette eines Vintage-Kleides komplett verändern. Ein moderner BH verleiht einer 60er-Jahre-Bluse eine zeitgemäße Form, und eine gut geschnittene High-Waist-Jeans ist die universelle Leinwand für fast jedes Vintage-Oberteil. Diese Basics sind das Rückgrat Ihres Kleiderschranks und die beste Versicherung gegen den gefürchteten „Kostüm-Look“.

Alles eine Frage der Silhouette: Warum ein 70er-Schlaghose mit einem 2000er-Top funktioniert (oder nicht)

Hier ist das eigentliche Geheimnis, das weit über die „Ein-Teil-Regel“ hinausgeht: Es ist nicht die Epoche, die über Harmonie oder Chaos entscheidet, sondern die Balance der Silhouetten. Mode ist Architektur am Körper. Es geht um Volumen, Proportionen und Linienführung. Wenn Sie lernen, in Formen statt in Jahrzehnten zu denken, eröffnen sich Ihnen völlig neue Kombinationsmöglichkeiten. Der Grund, warum eine weit ausgestellte 70er-Jahre-Schlaghose mit einem knappen, bauchfreien Top aus den frühen 2000ern so gut funktionieren kann, ist ein klassisches Designprinzip: Weit trifft auf eng. Das opulente Volumen unten wird durch die minimalistische Form oben ausgeglichen.

Umgekehrt funktioniert eine voluminöse 80er-Jahre-Karottenhose selten gut mit einem weiten Oversize-Sweatshirt aus den 90ern – es sei denn, Sie definieren die Taille mit einem Gürtel. Der Schlüssel liegt darin, immer einen klaren Fokuspunkt zu schaffen und nicht an mehreren Stellen gleichzeitig um Aufmerksamkeit zu konkurrieren. Betrachten Sie die Silhouetten verschiedener Epochen als Bausteine: Die A-Linie der 60er, die Schlaghose der 70er, die Power-Schultern der 80er, die schmalen Slip-Dresses der 90er. Ihre Aufgabe als Stil-Architektin ist es, diese Bausteine zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen.

Minimalistisches Flat-Lay verschiedener Kleidungssilhouetten aus unterschiedlichen Jahrzehnten

Vintage-Kleidung hat oft Schnitte, die nicht mehr unseren heutigen Proportionen entsprechen. Schultern können zu breit, Hosenbeine zu lang oder Taillen zu weit sein. Doch statt ein wunderbares Stück aufzugeben, sollten Sie es als formbare Masse betrachten. Eine kleine Änderung kann eine riesige Wirkung haben. Das Kürzen eines Saums oder das Anpassen einer Schulternaht kann ein altmodisches Kleidungsstück sofort modernisieren. Ein guter Änderungsschneider ist der beste Freund jeder Vintage-Liebhaberin.

Ihre Checkliste: Vintage-Passformen modernisieren

  1. Schultern prüfen: Die Schulternaht sollte exakt auf Ihrer Schulterkante sitzen. Ist sie zu breit, wirkt das Stück schnell unförmig. Eine Anpassung ist hier Gold wert.
  2. Bund anpassen: Ist die Vintage-Hose an der Hüfte perfekt, aber am Bund zu weit? Das ist ein häufiges Problem. Eine Bund-Anpassung beim Schneider ist eine einfache und effektive Lösung (Kosten in Deutschland: ca. 15-25 €).
  3. Ärmel anpassen: Zu lange Ärmel an Blazern oder Jacken lassen einen Look schnell nachlässig wirken. Das Kürzen auf die richtige Länge sorgt sofort für schärfere, moderne Proportionen.
  4. Säume neu denken: Ein Midi-Kleid aus den 50ern kann durch das Kürzen auf eine moderne Knielänge oder sogar Mini-Länge einen völlig neuen Charakter erhalten.
  5. Taillieren mit Gürtel: Der einfachste DIY-Trick: Nutzen Sie einen modernen Gürtel, um weite Vintage-Kleider oder -Blusen zu taillieren und eine schmeichelhafte Silhouette zu schaffen.

Von den Ikonen lernen: Was uns Jane Birkins Korb oder Kate Moss‘ Kleid über Stilbruch verraten

Stil-Ikonen werden nicht dadurch zu Legenden, dass sie Regeln befolgen, sondern dadurch, dass sie sie mit Intelligenz und Persönlichkeit brechen. Sie lehren uns, dass Kleidung mehr ist als nur Stoff – sie ist ein Statement, eine Haltung, eine Geschichte. Wenn wir ihre Looks analysieren, geht es nicht darum, sie zu kopieren, sondern darum, die zugrundeliegenden Prinzipien ihres Stilbruchs zu verstehen. Eines der besten Beispiele dafür ist Jane Birkin und ihr berühmter Weidenkorb.

In einer Ära, in der teure „It-Bags“ das ultimative Statussymbol waren, trug Birkin einen einfachen Marktkorb zu allem – von Jeans und T-Shirt bis hin zum eleganten Abendkleid. Dies war mehr als nur eine exzentrische Marotte; es war ein subversiver Akt. Der Korb war ein Statement gegen den Konsumterror und für eine unangestrengte, persönliche Form von Luxus. Ein Modehistoriker beschrieb dieses Phänomen treffend als „Gegenstands-Biografie“:

Die ‚Gegenstands-Biografie‘: Der Korb von Jane Birkin war nicht nur ein Accessoire, sondern ein Statement gegen teure It-Bags.

– Fashion Historian, Analyse des Anti-Status-Symbols in der Vintage-Mode

Was können wir daraus lernen? Dass ein unerwartetes, „unpassendes“ Accessoire einem Look eine tiefere Bedeutungsebene verleihen kann. Es kann eine Geschichte über Ihre Werte erzählen. Vielleicht ist es nicht der Weidenkorb, sondern die alte Uhr Ihres Großvaters, die Sie zu einem modernen Anzug tragen, oder eine handgemachte Keramikbrosche an einem Vintage-Blazer. Es geht darum, ein Objekt mit persönlicher Bedeutung zu wählen und es bewusst aus seinem gewohnten Kontext zu reißen. Dieser gekonnte Stilbruch verleiht Ihrem Outfit Charakter und Seele.

Muster-Mut: Die Formel für einen gelungenen Mix aus Streifen, Punkten und Blumenmustern

Über die rein technische 60-30-10-Regel hinaus, liegt der wahre Mut zum Mustermix in der Intuition und dem Verständnis für visuelle Verbindungen. Nicht alle Muster sind gleich geschaffen. Der Schlüssel zu einer meisterhaften Kombination liegt oft darin, unterschiedliche Muster-Charaktere zu vereinen. Kombinieren Sie zum Beispiel ein organisches, fließendes Muster (wie ein Blumen- oder Paisley-Print) mit einem strengen, grafischen Muster (wie Streifen, Karos oder Polka Dots). Dieser Kontrast schafft eine dynamische Spannung, die interessanter ist als die Kombination zweier ähnlicher Blumenmuster.

Eine weitere Geheimwaffe ist die Farbtheorie. Wenn Sie unsicher sind, ob zwei Muster zusammenpassen, halten Sie sie nebeneinander und kneifen Sie die Augen zusammen. Verschwimmen die Farben zu einer harmonischen Gesamtmasse? Perfekt. Gibt es einen grellen, unangenehmen Kontrast? Dann braucht es vielleicht ein verbindendes Element. Dieses Element kann ein einfarbiges Teil sein, das eine Farbe aus beiden Mustern aufgreift und so eine visuelle Brücke schlägt. Ein roter Gürtel kann beispielsweise einen roten Akzent im floralen Rock mit den roten Streifen einer Bluse verbinden.

Der „Bauhaus-Effekt“ bietet hier eine wunderbare Inspiration aus der deutschen Designgeschichte. Denken Sie an die geometrischen, klaren Muster von Textilkünstlerinnen wie Anni Albers. Solche Retro-Prints sind ein starkes Statement. Damit der Look nicht überladen wirkt, kann man sie gezielt mit schlichten Farben und Materialien kombinieren. Ein expressives Vintage-Muster auf Seide entfaltet eine besondere Wirkung, wenn es auf der ruhigen, texturierten Basis eines Mantels aus traditionellem deutschem Lodenstoff getragen wird. Der raue, matte Loden erdet den glänzenden, lauten Print und schafft eine faszinierende Mischung aus Tradition und Moderne, die tief in der europäischen Designkultur verwurzelt ist.

Von den Ikonen lernen: Was uns Jane Birkins Korb oder Kate Moss‘ Kleid über Stilbruch verraten

Während Jane Birkin uns die Kraft des „falschen“ Accessoires lehrte, hat uns eine andere Ikone eine Lektion über den Kontextwechsel erteilt: Kate Moss in den 90er Jahren. Ihr Signature-Look, das schlichte Slip Dress, war oft ein Vintage-Fund aus den 30er- oder 40er-Jahren, ursprünglich als Unterkleid gedacht. Moss trug diese zarten, seidigen Kleider jedoch nicht im Boudoir, sondern auf dem roten Teppich oder auf der Straße, kombiniert mit klobigen Biker-Boots, einer abgetragenen Lederjacke oder einfach nur mit einem Paar Flip-Flops.

Der Geniestreich lag darin, ein extrem glamouröses, feminines Stück komplett „herunterzuziehen“ (to dress down). Sie hat dem eleganten Kleid durch die Kombination mit rauen, alltäglichen Elementen seine Förmlichkeit genommen und es in etwas Lässiges, Cooles und absolut Modernes verwandelt. Dies ist die zweite große Schule des Stilbruchs: Nehmen Sie ein Stück und setzen Sie es in die entgegengesetzte stilistische Umgebung.

Diese Taktik ist universell anwendbar und ein mächtiges Werkzeug für Vintage-Liebhaberinnen. Haben Sie einen paillettenbesetzten 80er-Jahre-Blazer gefunden? Tragen Sie ihn nicht abends zur Gala, sondern tagsüber zu einer zerrissenen Jeans und einem einfachen grauen T-Shirt. Besitzen Sie einen eleganten 50er-Jahre-Bleistiftrock? Kombinieren Sie ihn nicht mit Pumps und Perlen, sondern mit einem Band-T-Shirt und Sneakern. Durch diesen bewussten Bruch entziehen Sie dem Vintage-Stück seine „kostümartige“ Aura und integrieren es vollständig in Ihr gegenwärtiges Leben. Sie zitieren nicht nur eine Epoche, Sie eignen sie sich an und schreiben ihre Geschichte neu.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Harmonie der Silhouetten (z.B. weit zu eng) ist entscheidender für einen gelungenen Look als die Epochen-Treue Ihrer Kleidungsstücke.
  • Ein starkes, modernes „Anker-Stück“ (eine gut sitzende Jeans, minimalistischer Schmuck, moderne Schuhe) erdet jeden Vintage-Look und verhindert das „Kostüm-Gefühl“.
  • Ihre Persönlichkeit und die Geschichte, die Sie erzählen wollen, sind der ultimative Stil-Ratgeber – brechen Sie die Regeln mit Absicht und Selbstbewusstsein.

Finden Sie Ihren Stil-Code: Eine Anleitung zur Entwicklung Ihrer persönlichen modischen Handschrift

Nachdem wir die Regeln gebrochen und die Prinzipien verstanden haben, kommt der wichtigste Teil: die Anwendung auf Ihre eigene Persönlichkeit. Vintage-Shopping ist mehr als nur eine nachhaltige Art, sich zu kleiden; es ist ein Akt der Selbstfindung. In einer Welt der Fast-Fashion-Uniformität bietet es die Chance, eine Garderobe zusammenzustellen, die so einzigartig ist wie Ihr Fingerabdruck. Sie sind nicht mehr nur Konsumentin, sondern Kuratorin Ihrer eigenen kleinen Modeausstellung. Der Trend geht klar in diese Richtung: Laut einer Erhebung haben über 65 % der Deutschen 2023 gebrauchte Mode gekauft, was zeigt, dass Individualität und Nachhaltigkeit im Mainstream angekommen sind.

Ihr persönlicher Stil-Code ist die Summe Ihrer Entscheidungen: die Epochen, zu denen Sie sich hingezogen fühlen, die Silhouetten, in denen Sie sich stark fühlen, die Muster, die Ihre Stimmung widerspiegeln. Führen Sie ein Stil-Tagebuch oder erstellen Sie ein Pinterest-Board. Sammeln Sie nicht nur Outfits, sondern auch Stimmungen, Farbkombinationen, Architekturbilder oder Filmstills. Fragen Sie sich: „Welche Geschichte möchte ich heute erzählen?“ Manchmal ist es eine leise, minimalistische Geschichte, manchmal eine laute, exzentrische. Ihr Kleiderschrank sollte Ihnen für beides die Bausteine liefern.

Der beste Weg, Ihren Stil zu finden, ist, ihn zu suchen. Stürzen Sie sich ins Getümmel! Deutschland bietet eine fantastische Landschaft für Vintage-Jägerinnen, von riesigen Flohmärkten bis hin zu kuratierten Boutiquen. Hier ist ein kleiner Atlas für Ihre nächste Schatzsuche:

  • Berlin: Der sonntägliche Mauerpark-Flohmarkt ist legendär. Für kuratiertere Funde besuchen Sie die Humana Vintage Stores oder den Garage Shop, wo nach Gewicht bezahlt wird.
  • Hamburg: Die Flohschanze am Samstag ist ein Muss. Spezielle Adressen wie Kleidermarkt oder Glanz & Gloria bieten ebenfalls eine tolle Auswahl.
  • München: Neben dem großen Flohmarkt im Olympiapark gibt es Boutiquen wie Vintage Love oder den Pick & Weight Kilo Store.
  • Köln: Der Eigelstein Vintage Market und regelmäßige Vintage Kilo Sale Events sind Hotspots für Secondhand-Mode.
  • Leipzig: Der Feinkost-Flohmarkt und Läden wie Vintage Galore sind feste Größen in der lokalen Szene.
  • Online: Plattformen wie Vinted (mit über 550 Millionen gelisteten Artikeln) oder Momox Fashion (mit über 1 Million Modeartikeln) sind eine unerschöpfliche Quelle.

Sehen Sie jeden Kauf als ein neues Wort in Ihrem persönlichen Stil-Vokabular. Kombinieren Sie, experimentieren Sie, machen Sie „Fehler“. Denn in der Welt des persönlichen Stils gibt es keine Fehler, nur Experimente. Und jedes Experiment bringt Sie Ihrer einzigartigen modischen Handschrift einen Schritt näher.

Beginnen Sie noch heute damit, Ihren Kleiderschrank nicht als Ansammlung von Regeln, sondern als Ihre persönliche Bühne zu betrachten. Schnappen Sie sich Ihr mutigstes Vintage-Teil und fragen Sie sich: „Welche Geschichte erzählen wir heute zusammen?“

Geschrieben von Maja Brandt, Maja Brandt ist eine professionelle Personal Stylistin und zertifizierte Garderoben-Beraterin mit über 10 Jahren Praxiserfahrung. Sie ist darauf spezialisiert, für ihre Klienten in deutschen Großstädten funktionale und nachhaltige Capsule Wardrobes zu entwickeln.